
Die Wertbildungsrechnung
Die große und unentdeckte Chance im internen Rechnungswesen ist, dass Unternehmen die Gestaltung des Rechenwerkes absolut frei steht. Anders als im externen Rechnungswesen gibt es bestenfalls gelernte Konventionen und Erfahrungen, die sich als hilfreich oder eben nicht besonders passend im Kontext einer Organisation erweisen. Es besteht ein selten genutzter Gestaltungsspielraum, durch die Konstruktion des internen Rechenwerkes eine nachhaltige, menschlichere Sicht auf Unternehmen zu ermöglichen.
Hintergrund und Herkunft der Wertbildungsrechnung
Die Wertbildungsrechnung wurde zu Beginn der 1990er Jahre durch die dm-Drogeriemarktkette erdacht und erprobt, später fand sie auch Anwendung bei Alnatura. Damit wurde ein tatsächlich diametral anderer Entwurf zum etablierten Controlling-Konzept der Deckungsbeitragsrechnung geschaffen. Die Wertbildungsrechnung erwies sich als wesentlich hilfreicher um die Leistungsprozesse in den zunehmend selbstorganisierten Unternehmen abzubilden und eine Kultur der Eigenverantwortlichkeit zu fördern.
Die Kernbegriffe: Wertschöpfung, Eigenleistung, Vorleistung, Fremdleistung
"Ganz oben" im Schema der Wertbildungsrechnung steht der Umsatz. Der Umsatz ist die in Geldeinheiten gemessene Wertschätzung der Kunden für die Leistung eines Unternehmens. Der Umsatz wird gemindert um den Wareneinsatz, das Ergebnis ist die Wertschöpfung des Unternehmens [1]. In der herkömmlichen Deckungsbeitragsrechnung bezeichnet man diese Zeile im Rechenwerk als Rohertrag. Die Wertbildungsrechnung stellt die Frage, wie diese Wertschöpfung gebildet wurde (daher auch Wertbildungsrechnung). Prinzipiell unterscheidet sie dabei drei Arten von wertbildenden Leistungen:
Die Eigenleistung [2] bezeichnet direkt wertbildende Leistungen, für die Kunden eine Rechnung eine Rechnung gestellt werden kann. In dieser Zeile stehen also die Einkommen und Sozialleistungen der Mitarbeiter*innen, die in direkt wertschöpfenden Abteilungen und Kreisen tätig sind (bspw. Berater*innen in Beratungsunternehmen).
Als Fremdleistungen [3] bezeichnet man wertbildende Leistungen, die von Dritten außerhalb des Unternehmens erbracht werden, also von Lieferanten oder Freelancer*innen.

Als Vorleistung [4] bezeichnet man die Leistungen von indirekt wertbildenden Funktionen im Unternehmen: bspw. Leistungen wie Finanz- und Rechnungswesen oder PR und Kommunikation, für die man den eigenen Kunden nicht direkt eine Rechnung schreiben kann. Die Vorleistungs-Abteilungen verrechnen ihre Leistungen an die direkt wertbildenden Abteilungen, die diese empfangen. Ist die Wertschöpfung größer als die Summe der Preise für die Leistungen der Wertbildung, dann entschuldet sich das Unternehmen. Entschuldung ist in der Sprache der Wertbildungsrechnung also das Pendant zum Gewinn in der Deckungsbeitragsrechnung. Eine maßgebliche Kennziffer in der Wertbildungsrechnung ist die Wertbildungsquote (WBQ). Eine einfache Formel, die jedoch ein gänzlich anderes Licht auf das Verhältnis von Einkommen der Kolleg*innen und "Gewinn" ermöglicht:
WBQ = (Entschuldung + Mitarbeiter*inneneinkommen) / Umsatz
In der Sprache der Deckungsbeitragsrechnung gesprochen, werden hier zum Gewinn die Personalkosten hinzuaddiert und ins Verhältnis zum Umsatz gesetzt. Damit macht es auf einen Schlag schlichtweg keinen Sinn mehr, die Personalkosten zu drücken um den Gewinn zu erhöhen - die WBQ wird sich dadurch nicht verändern. Systemisch gesprochen: die Wertbildungsrechnung konstruiert hier also eine andere, sehr hilfreiche Wirklichkeit. (An dieser Stelle sei auf den Beitrag zum Konstruktivismus im Controlling verwiesen, den Du hier findest.)
Leistungskataloge machen die Wertbildung transparent & begreifbar
In jedem Unternehmen gibt es umsatzbringende (direkt wertbildende) und indirekt wertbildende Abteilungen. Die indirekt wertbildenden Abteilungen schreiben für die von ihnen erbrachten Leistungen monatlich Abrechnungen an die direkt wertbildenden Abteilungen. Diese Abrechnungen werden als Leistungskataloge bezeichnet. Das macht auch Sinn, denn so können die direkt wertbildenden Kreise abschätzen, ob sie bereit sind, den Preis für die erbrachte Leistung zu tragen. Wenn zum Beispiel das Controlling ein monatliches Reporting-Package liefert, das wenig genutzt wird und dafür pro Abteilung 2.000 EUR berechnet, werden die wertbildenden Abteilungen nachfragen, ob die Qualität der Leistung verbessert werden kann oder ob der Preis reduziert werden kann. Ganz final stellt sich nämlich genau diese Frage die Kunden unseres Unternehmens auch: Bin ich bereit, den geforderten Preis für die erbrachte Leistung zu bezahlen? Das Konstrukt der Leistungskataloge verankert genau diese Sicht im gesamten Unternehmen. Ein weiterer Vorteil der Leistungskataloge ist, dass die Leistungsströme in einem Unternehmen transparent und besprechbar werden. In der klassischen Deckungsbeitragsrechnung wird mit ausgefeilten und vom Controlling fixierten Schlüsseln umgelegt und verrechnet. Oft genug ist den sogenannten Erlöskostenstellen aber gar nicht klar wofür sie da eigentlich Kosten aufgebrummt bekommen. Da ist es kein Wunder, dass Menschen in den Erlöskostenstellen den indirekten Leistungen erstmal sehr skeptisch gegenüber stehen.
Sprache schafft Wirklichkeiten
Die Wertbildungsrechnung verwendet eine andere Sprache als das traditionelle Controlling. Personalkosten reduzieren in der Deckungsbeitragsrechnung den Rohertrag und nach Abzug von sämtlichen Sachkosten bleibt ein Gewinn übrig, der den Anteilseigner als Verzinsung auf ihr eingesetztes Kapital zusteht. Im Klartext sagt das Rechenwerk der Deckungsbeitragsrechnung: Ihr arbeitet hier, bekommt ein Gehalt und reduziert damit den Gewinn der Anteilseigner. An keiner Stelle wird von Leistung und Wertschätzung der Mitarbeiter*innen gesprochen, die doch in Wirklichkeit erst den Gewinn erwirtschaften und damit Wert bilden. In der Wertbildungsrechnung wird auf den Begriff "Kosten" komplett verzichtet. Stattdessen wird von "Preisen für Leistungen" gesprochen. Ebenso existiert das Wort "Gewinn" nicht. Viel trefflicher erscheint an dieser Stelle der Begriff der "Ver- und Entschuldung". Wenn wir "Gewinn machen", kommt das einer bilanziellen Entschuldung gleich, wenn wir "Verlust machen", verschulden wird uns, das Eigenkapital schrumpft. Die Sprache und die Sicht der Wertbildungsrechnung konstruieren damit eine Wirklichkeit, die sehr nahe an den tatsächlichen Leistungsströmen im Unternehmen ist. Es geht nicht darum, Kosten zu vermeiden, damit der Gewinn möglichst groß wird - das ist gar nicht das Thema der Wertbildungsrechnung. Es geht darum, wie Leistungen entstehen, die unsere Kunden wertschätzen und für die bereit sind einen Preis (= in Geld gemessene Wertschätzung) zu bezahlen.
Die Wertbildungsrechnung - das Rechenwerk für mehr Agilität und Nachhaltigkeit
Die Wertbildungsrechnung ermöglicht einen wirksamen, menschlichen und transparenten Blick auf Unternehmen. Sie eignet sich damit ideal für selbst-organisierte, pupose-orientierte und agil arbeitende Unternehmen. Die Wertbildungsrechnung bildet eine Kern-Methode des systemisch-agilen Rechnungswesens. Wenn Du Interesse an dem Thema oder der Einführung in Deinem Unternehmen hast, melde Dich gerne bei mir - hier kannst Du mir direkt eine Nachricht hinterlassen.
weitere Lesetipps:
Werner, G. W. (2015). Womit ich nie gerechnet habe - Die Autobiographie. Berlin: List Taschenbuch.
Malter, M. A. (2011). Die Wertbildungsrechnung - Ein sozialorganisches Instrument des internen Rechnungswesen. Alfter: Institut für Sozialorganik an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft.
Hummel, P. (2016). Erkenntnis fördern, Haltung gewinnen - Die Wertbildungsrechnung bei Alnatura und dm – drogerie markt. Controller Magazin, September/Oktober, S. 73-76.
Ostereich, Bernd (2018). Nutzen- statt Gewinnmaximierung mit der Wertbildungsrechnung; https://next-u.de/2018/nutzen-statt-gewinnmaximierung-mit-der-wertbildungsrechnung/